Corinna Kuhr-Korolev über private Kontakte zwischen Ost und West seit der Perestroika
Trotz des Eisernen Vorhangs gab es immer inoffizielle und private Beziehungen zwischen deutschen und sowjetischen BürgerInnen. Am Rande von offiziösen Freundschaftstreffen, Konferenzen und Kultur- oder Sportevents ergaben sich persönliche Kontakte, die manchmal in Freundschaften, selbst in Familiengründungen mündeten. Vor allem zwischen Menschen der DDR und der UdSSR bestanden private Beziehungen, nicht zuletzt durch ostdeutsche Studierende an sowjetischen Universitäten, gemeinsame Bau- und Wirtschaftsprojekte und die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte. Westdeutsche, die einen tieferen Einblick in sowjetisches Alltagsleben bekommen konnten, gab es deutlich weniger. Hier war es nur ein kleiner Kreis von JournalistInnen, SlawistInnen und anderen SowjetunionexpertInnen, die sich längere Zeit in der Sowjetunion aufhielten und Erfahrungen sammelten. Umgekehrt hatte nur eine kleine Gruppe sowjetischer BürgerInnen das Privileg, in den Westen zu fahren und außerhalb einer streng organisierten Gruppenreise individuelle Erfahrungen zu machen.
Als auf politischer Ebene seit 1986/87 eine Annäherung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion stattfand und entsprechende Abkommen getroffen wurden, übernahmen oft Personen aus diesen engen Kreisen die Rolle der ersten BrückenbauerInnen. Sie verfügten über die persönlichen Beziehungen, Sprach- und Landeskenntnisse, um Städte- und Hochschulpartnerschaften, Wissenschaftsaustausch, Ausstellungsprojekte und nicht zuletzt humanitäre Hilfsprogramme zu organisieren. Ihre MultiplikatorInnenfunktion war enorm, weil die Menschen in Ost und West auf vielen verschiedenen Ebenen Interesse am Austausch hatten. In wenigen Jahren entstanden eine ungeheure Vielfalt und Vielseitigkeit von Beziehungen und Kontakten. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Westdeutschen und der Sowjetunion darf fast von einer Phase der Verliebtheit gesprochen werden, so frisch, unbelastet und voller Neugier waren die ersten privaten und persönlichen Begegnungen, die nun möglich waren.
Es gab keine Angst voreinander. Die Menschen öffneten buchstäblich ihre Türen. Leute, die damals spontan losreisten, um den exotischen Osten oder den „goldenen“ Westen zu erkunden, können alle berichten, dass sie von Fremden nach Hause eingeladen wurden. Plötzlich saß man an Küchentischen oder in Wohnzimmern, vor sich Wodka, Wein, Bier oder Tee, trank auf die deutsch-sowjetische Freundschaft, verständigte sich mit Mühe, besprach mit rudimentären Sprachkenntnissen, ob Gorbatschows Reformen erfolgreich sein könnten, wieviel ein Volkswagen oder die Miete einer Dreizimmerwohnung kostete, dass der Krieg Opfer auf beiden Seiten gebracht hatte und dass die Menschen überall letztlich gleich seien.
Ob das alles so stimmte, die Themen interessant waren, die Standpunkte des Gegenüber den eigenen entsprachen, all das spielte zu diesem Zeitpunkt keine Rolle. Auf die Haltung und die Stimmung kam es an. Einigkeit herstellen, erste Brücken bauen, Horizonte öffnen. Was auf politischer Ebene verkündet wurde, auf privater Ebene fand es statt. Willkommenskultur auf beiden Seiten.
Ist das eine Idealisierung? Rosarot eingefärbte Erinnerung? Was folgte diesen Begegnungen? Welche Spuren haben sie hinterlassen? Nach der Euphorie kam der Alltag mit Verständnisproblemen und Enttäuschungen, aber ebenso mit Zusammenarbeit und Annäherung. Die Zahl derjenigen, die begannen, die jeweils andere Sprache zu erlernen, die zum Studium, zur Fortbildung oder zum Arbeiten ins andere Land gingen, stieg in kurzer Zeit enorm an und umfasste ein großes Spektrum von Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Schieflagen gab es dabei immer. Fast alle Weiterbildungsprogramme, Ausstellungsprojekte und wirtschaftlichen Unternehmen wurden bis zum Ende der 1990er Jahre von westlicher Seite finanziert und inhaltlich bestimmt. Auch die Interessen waren unterschiedlich gelagert: Westdeutsche gingen aus Neugierde, Entdeckerlust und manchmal Hoffnung auf schnelles Geld nach Russland oder in einen der sowjetischen Nachfolgestaaten; ehemalige sowjetische StaatsbürgerInnen trieb dagegen häufig die Suche nach neuen Perspektiven und die Aussichtslosigkeit im eigenen Land nach Westen. Aus den verschiedenen Prioritäten resultierten Missverständnisse und Ernüchterungen. Es entstanden aber auch alltägliche Beziehungen: Geschäftsprojekte wurden realisiert, Lebensmittelpunkte verlegt, deutsch-russische Familien gegründet, Kinder geboren.
Für viele blieben die Begegnungen der Perestroika-Zeit am Küchentisch oder im Wohnzimmer eine Episode, die keine Fortsetzung fand. Denjenigen, die die Sowjetunion für immer verlassen haben und nach Deutschland kamen, standen die Türen nicht offen. Erst die zweite oder dritte Generation fühlt sich integriert. SpezialistInnen aus Osteuropa, die ihr Studium oder ihre Ausbildung in Deutschland erworben haben, sind als „NichtmuttersprachlerInnen“ bei der Jobsuche benachteiligt. Kein Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an einer deutschen Universität ist mit jemandem aus Russland oder der Ukraine besetzt.
Und umgekehrt? Was wurde aus denen, die sich von Deutschland aus Richtung Osten aufmachten, um ein tiefes Verständnis von der Geschichte, Kultur und Wirtschaft der Region zu erwerben? Die einen haben sich andere Karrierewege gesucht und betrachten diese Zeit als eine abgeschlossene Etappe in ihrer Biografie. Die anderen bilden den kleinen Kreis der OsteuropaexpertInnen an Universitäten und Forschungsinstituten. Sie prägen maßgeblich das gesellschaftliche Wissen über den postsowjetischen Raum, klagen aber auch darüber, dass ihre Expertise zu wenig abgefragt wird – und osteuropäische Perspektiven in historischen und politischen Debatten oft vergessen werden.
Das Foto oben zeigt Teile des DAAD-Jahrgangs 1992/93 am Belarussischen Bahnhof in Moskau 1992. Verabschiedet werden Katharina Kucher und Corinna Kuhr-Korolev. Außerdem zu sehen: eine deutsche Künstlerin aus Belgien, eine Historikerinnenfreundin aus Rostow-am-Don, die später nach Amerika ausgewandert ist, ein Physikdozent der MGU, der später eine Grundschule in Moskau eröffnet hat, mittlerweile aber in Marseille lebt, eine Moskauer Deutschlehrerin, die sich mit der deutschen Karl-Liebknecht-Schule beschäftigt hat, eine Studentin aus Oxford schweizerischer Herkunft, die später beim Internationalen Roten Kreuz in Genf gearbeitet hat, und ein Historiker vom Institut für vaterländische Geschichte der RAN (Russische Akademie der Wissenschaften).