Anatoli Berstein
Text: Anatoli BersteinÜbersetzung: Alexandra BerlinaTitelbild: © Anatoli Berstein19.08.2021

Anatoli Berstein hat gerade seinen Job als Lehrer an den Nagel gehängt, da rollen im August 1991 Panzer durch Moskau. Mit ehemaligen Schülern macht er sich vor Ort ein Bild der Ereignisse – eine Zeit, die ihn bis heute beschäftigt.

Am 19. August 1991 wurde ich um 7 Uhr morgens geweckt: „Es sind Panzer in Moskau!“

Die, die behaupten, sie hätten damals keine Angst gehabt, sollen mal nicht so tun. Wer heute erzählt, was für ein Zirkus der Putsch gewesen sei – die Farce einer staatlichen Operettentruppe – der lügt oder will bewusst herunterspielen, was die Menschen, Moskauer vor allem, damals geleistet haben. Nein, anfangs war da Angst. Angst und Schock. Ich hatte die schlimmsten Szenarien im Kopf: Würde es wieder wie unter Breshnew und Andropow sein, oder schlimmer, wie unter Stalin? Das Ganze erinnerte mich sehr an die Tschechoslowakei im Jahr 1968

Anfangs war da Angst. Angst und Schock

Erst um 12 Uhr, als ich aus den Nachrichten erfuhr, dass Jelzin nicht verhaftet wurde, dass er im Weißen Haus eingetroffen war und eine Rede gehalten hatte, in der er die Geschehnisse als einen Staatsstreich bezeichnete – da wurde mir klar: Das selbsternannte Staatskomitee für den Ausnahmezustand (russische Abkürzung: GKTschP) würde es nicht schaffen. Da sagte ich: „Drei Tage. Die Putschisten werden sich höchstens drei Tage halten.“ Die Vorahnung eines Bürgerkriegs wich der Klarheit, dass dieser schreckliche, aber dennoch unsinnige Putsch bald sein Ende findet.

Nach der Arbeit rief ich zwei Schulfreunde an. Wir trafen uns auf dem Arbat und gingen zum Weißen Haus. Dort wurden bereits Barrikaden errichtet; man trug Bretter, Mülltonnen, irgendwelche Baumaterialien zusammen. Es sah alles etwas absurd aus, absonderlich. Was könnte dieses Zeug schon ausrichten, wenn Panzer anrollen? Aber gleichzeitig war es auch ein faszinierender, ja epischer Anblick – das moderne Moskau hatte so etwas noch nicht gesehen.

Während zwei von uns überlegten, was nun zu tun sei, packte der dritte schweigend einen Baumstamm mit an und schleppte ihn zu der Barrikade. Er blieb. Wir gingen an diesem Abend nach Hause und warteten gespannt darauf, wie sich die Ereignisse entwickeln würden.

Man trug Bretter, Mülltonnen, irgendwelche Baumaterialien zusammen. Es sah alles etwas absurd aus, absonderlich. Was könnte dieses Zeug schon ausrichten, wenn Panzer anrollen?

1991 hatte ich meine letzte Klasse verabschiedet und aufgehört als Lehrer zu arbeiten. In jenen Tagen habe ich mir zum ersten Mal erlaubt, meine Zöglinge in politische Fragen hineinzuziehen. Am 20. August besuchten mich ein paar Absolventen zu Hause, und einer sagte: „Meine Eltern meinen, es kommt jetzt endlich Ordnung. Und überhaupt, bei uns, in den Vororten von Moskau, ist alles schön ruhig.“ Also beschloss ich, sie zu Zeugen eines historischen Ereignisses zu machen: Wir gingen gemeinsam zu einer Großdemo in der Nähe vom Mossowjet-Theater, dann zum Weißen Haus, wo die Panzer von General Lebed aufgefahren waren – die Soldaten und die Moskauer standen, als wir ankamen, aber schon auf einer Seite. Es war eine Revolution. Und wir waren Augenzeugen. Und, ehrlich gesagt, am liebsten wären wir Teilnehmer gewesen.

Bei Einbruch der Dunkelheit wurde eine Ausgangssperre verhängt. Abends besuchte ich meine Eltern, die im Zentrum von Moskau wohnten. Meine Mutter war sehr krank und machte sich natürlich große Sorgen um mich. Sie bat mich, nicht auf die Straße zu gehen. Ich wollte sie nicht nervös machen, und ich hatte auch Angst, aber ich konnte einfach nicht stillsitzen. Und vor allem als ich im Radio, im Sender Echo Moskwy, den Aufruf eines guten Bekannten von mir hörte, junge Männer sollen zum Weißen Haus kommen, wurde es absolut unerträglich, zu Hause zu sitzen. Es wäre zu beschämend gewesen!

Es war eine Revolution. Und wir waren Augenzeugen. Und, ehrlich gesagt, am liebsten wären wir Teilnehmer gewesen

Nachts gegen zwei, als meine Mutter eingeschlafen war, machte ich mich über Hintergassen auf den Weg zum Regierungsgebäude. Unter den Verteidigern des Weißen Hauses herrschte eine nahezu freudige Anspannung. Jede Minute wurde die Erstürmung erwartet.

Ich war einfach nur da, um da zu sein. Und als die Metro um sechs Uhr morgens öffnete und viele in Richtung der Krasnopresnenskaja-Station strömten, kam ich erleichtert mit.

Ich glaube, es nieselte etwas; einige Leute hatten Regenschirme. Plötzlich, als wir schon einige hundert Meter vom Weißen Haus entfernt waren, hörte ich Pfiffe und Rufe: „Sie kommen! Die Panzer kommen!“ Die Erstürmung hat begonnen, dachten alle. Und – sie drehten sich um und rannten zurück. Ja, sie gingen nicht, sie rannten auf die Panzer zu. Ich auch. Es war unmöglich, weiter in die entgegengesetzte Richtung, zur Metro, zu gehen. Dann kamen wieder Rufe: „Sie sind auf unserer Seite! Sie manövrieren da nur irgendwie auf der Promenade herum.“ Ich war sehr erleichtert und bin dann schnell nach Hause gegangen.

Damals wussten wir alle schon, dass an der Kreuzung des Gartenrings und des Kalininski-Prospekts jemand sein Leben verloren hatte. Das war bitter. Aber die Euphorie war stärker – am dritten Tag verließen die Truppen Moskau. Es wurde klar: Wir hatten gewonnen!

Dreißig Jahre sind seit diesen historischen Ereignissen vergangen. Von Jahr zu Jahr wird die Erinnerung an diese Tage blasser; manchmal mischt sich sogar Geringschätzung dazu.

Dabei waren das Ende der Perestroika und der August 1991 für mich und für viele andere eine Zeit der Hoffnung und der Entdeckung. Man konnte es kaum fassen: Das sowjetische System war zusammengebrochen. Es war, als hätte man die Tür einer muffigen, düsteren Abstellkammer eingetreten, weil man es darin einfach nicht mehr aushielt. Plötzlich gehörte das Land uns; plötzlich waren alle freundlich zueinander – wahrscheinlich war das nicht ganz so, aber es fühlte sich so an. Die Ratio spielt hier keine Rolle.

Das war eine Zeit der Hoffnung und der Entdeckung

Die 1990er bedeuten trotz allem eine Befreiung – genauer gesagt einen noblen Versuch, sich von Komplexen zu befreien. Das war eine fantastische Gelegenheit, die Welt zu sehen.

Die 1990er waren eine große Chance, eine Euphorie der Freiheit, eine Abkehr von der abgestandenen, scheinheiligen, erniedrigenden sowjetischen Ästhetik.

Die 1990er bedeuten einen Versuch der Aufrichtigkeit, einen Sprung in der moralischen Evolution, der Persönlichkeitsentwicklung, ein Recht auf Wahl.

Und: Sie bedeuten die wunderbaren Gesichter der Menschen, die das Weiße Haus verteidigten.

Ja, ich spreche nur über eine Seite der 1990er, die Seite, die mich berührt hat und andere vielleicht nicht. Vielleicht sind diese anderen sehr viele. Vielleicht ist das die Nostalgie eines Käfers im Ameisenhaufen, eine Nostalgie, die nur wenige in Russland kennen. Aber für mich war diese Freiheit damals – eine wilde, gefährliche Freiheit, aber doch eine Freiheit – alles wert.

Natürlich stelle ich all das Leid und die Demütigungen nicht in Frage, die damals Millionen erlitten, die ihre Ersparnisse verloren oder die sich als nationale Minderheiten in den von der Sowjetunion losgelösten Republiken wiederfanden und am eigenen Leib die ganze Wucht der propagierten „Völkerfreundschaft“ zu spüren bekamen, an die so viele geglaubt hatten. Ihnen gilt mein tiefstes Mitgefühl. Wobei ich die genauen Zahlen nicht kenne und ich weiß, dass es noch viel mehr Opfer hätte geben können.

Es tut weh, zu sehen, dass die schöpferische Energie so vieler guter und einfacher Menschen vergeudet wurde

Viele Menschen sehnen sich jetzt nach den „guten alten Zeiten“. Doch das ist in Wirklichkeit keine Sehnsucht nach der Vergangenheit. Es ist eine innere Abneigung gegen die Gegenwart. Es ist eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit, ein Protest gegen die Gemeinheiten. Es tut weh, zu sehen, dass die schöpferische Energie so vieler guter und einfacher Menschen vergeudet wurde, die kurz an ein Wunder glaubten – sich aber bald darauf grausam betrogen fühlten.

Anatoli Berstein in der Redakion der „Utschitelnaja gaseta”, etwa 1991/1992 / Foto © Anatoli Berstein

Anatoli Berstein ist Historiker, Lehrer und Journalist. Er studierte Geschichte am Pädagogischen Institut in Moskau, arbeitete bis 1991 an einer Schule und anschließend als Kolumnist und Journalist für Utschitelskaja Gaseta, Perwoje Sentjabrja, Wremja Nowostei und Moskowskije Nowosti und weitere (Fach-)Zeitschriften. Er hat auch mehrere Bücher über Pädagogik veröffentlicht.