Andreas Metz
Text: Andreas MetzTitelbild: © Andreas Metz19.08.2021

Andreas Metz: Als Sprachschüler beim Augustputsch 1991 in Moskau

Die Augusttage in Moskau 1991 haben sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt. Mit einer Gruppe von etwa 20 deutschen Studierenden flog ich damals als 21-Jähriger für einen Monat zu einem Russischkurs in die Hauptstadt der Sowjetunion. Wir lebten in Familien, die für unsere Unterbringung und Verpflegung exakt 100 Mark erhielten, was für Moskauer Verhältnisse viel Geld war. Moskau war selbst im August seltsam grau, die Leute wirkten abgekämpft, ratlos. Das politische System steckte in einer Sackgasse und bröckelte an vielen Ecken und Enden, die drei baltischen Staaten hatten sich bereits für unabhängig erklärt. Die Begeisterung für den Reformer Michail Gorbatschow befand sich auf einem Tiefpunkt. Die ältere Moskauer Bevölkerung vermisste die Stabilität der 1970er Jahre, die jüngere Bevölkerung schaute nach Westen. Ein neuer Hoffnungsträger war Boris Jelzin, der erst im Juni 1991 erster demokratisch gewählter Präsident Russlands, also der Russischen Teilrepublik der Sowjetunion (RSFSR) geworden war.

Am Morgen des 19. August, einem Montag, teilte mir meine Gastmutter recht gefasst mit, dass man Michail Gorbatschow in seinem Sommerdomizil auf der Krim festgenommen und als Präsident der Sowjetunion abgesetzt habe. Diese Meldung kam wohl über Radio Moskau, das dann auf Musik umstellte. Im Fernsehen lief Schwanensee. Auf dem Weg in die Sprachschule sah ich an der Metro-Station am Gorki-Park die ersten Panzer. Gerüchten zufolge waren alle Nachrichtenverbindungen in den Westen gekappt. Nach längeren Diskussionen beschlossen wir Studierenden zur Überwindung der eigenen Ohnmacht, Zettel mit dem Spruch „Noch ist es nicht zu spät. Protestiert gegen die Diktatur“ heimlich in der Metro auszulegen. Als Ausländer fühlten wir uns relativ sicher. Später am Tag entdeckte ich dann in der Metro einen Ukas Jelzins, in dem er alle Maßnahmen der neuen Kreml-Herren für ungültig erklärte und zum Widerstand aufrief.

Die Leute wirkten abgekämpft, ratlos. Das politische System steckte in einer Sackgasse

Erstaunlich und aus meiner Perspektive vorentscheidend war dann, was in der Hauptnachrichtensendung Wremja am Montagabend geschah: Zunächst wurde aus dem Kreml eine Pressekonferenz eines ominösen Staatskomitees für den Ausnahmezustand gezeigt, das Gorbatschows Stellvertreter Gennadi Janajew unter anderem mit dem Innenminister Pugo, Verteidigungsminister Jasow und KGB-Chef Krjutschkow bildete. Der Haufen kommunistischer Funktionäre gab ein ziemlich jämmerliches Bild ab, Janajew zitterten sogar die Hände. Unmittelbar danach zeigte das Fernsehen Bilder von Demonstranten am Weißen Haus an der Moskwa, dem Sitz des russischen Parlaments. Ein entschlossener Boris Jelzin war zu sehen, wie er auf einem Panzer stehend, den Ukas verlas, den ich zuvor auch in der Metro gesehen hatte.

Heute wissen wir: Eine Verhaftung Jelzins scheiterte am Montagmorgen um Haaresbreite. Warum aber dann dieser Bericht über seinen Widerstand in die Wremja gelangen konnte, ist für mich bis heute ein großes Rätsel. Merkwürdige Zufälle und der Mut einiger Weniger entschieden über Weltgeschichte.
Die unmittelbare Folge des Fernsehberichts: Am folgenden Dienstag strömten einige tausend Jelzin-Anhänger zum Weißen Haus und bauten dort Barrikaden. Auch wir Studierenden demonstrierten mit. Angesichts von zehn Millionen Moskauern war die Zahl der Demonstranten anfangs lächerlich gering. Aber auch die Putschisten brachten nur ein paar Panzer mit blutjungen Rekruten auf die Straßen, die Befehle umzusetzen hatten, die ihnen selbst erkennbar nicht geheuer waren.

Merkwürdige Zufälle und der Mut einiger Weniger entschieden über Weltgeschichte

Die Putschisten hatten ihr Momentum verpasst. Da half auch die Verhängung einer nächtlichen Ausgangssperre nichts mehr. Als in der Nacht zu Mittwoch eine Panzereinheit den Widerstand am Weißen Haus testen wollte, wurde sie von Barrikaden aus Trolleybussen gestoppt und von Demonstranten mit Decken empfangen, die den Panzerfahrern die Sicht nahmen. In Panik überrollten beziehungsweise erschossen sie deshalb drei junge Männer. Sie blieben die einzigen Toten dieser Augusttage, denn wenige Stunden nach der verunglückten Aktion liefen die Putschisten auseinander. An diesem Mittwoch gelang es gegen Mittag einem Kommilitonen und mir völlig überraschend, ein Telegramm vom Haupttelegrafenamt unweit des Roten Platzes abzusetzen – unser erstes Lebenszeichen nach Hause.
Kurz darauf sahen wir, wie am Kreml die dort zum Schutz der Putschisten aufgefahrenen Panzer abzogen. Damit war klar, was wir dann kurz darauf über ein selbstgebasteltes Radio auch im Österreichischen Rundfunk hörten: Der Spuk war vorbei!

Auch die Demokraten in Russland haben letztlich in den 1990er Jahren ihr eigenes Momentum verpasst

Bereits in der Nacht zu Donnerstag nahm ein kraftstrotzender Jelzin einen blassen Gorbatschow am Moskauer Flughafen in Empfang. Auf einmal schien auch im tristen Moskau die Sonne. Hunderttausende gingen am Donnerstag zu einer Siegesdemo auf die Straße, demonstrierten vor der KPdSU-Zentrale sowie vor der KGB-Zentrale an der Lubjanka. Wir Studierenden verfolgten dort mit, wie immer mehr Demonstranten dem Denkmal des KGB-Gründers Felix Dsershinski zu Leibe rückten, bis es in der Nacht dann endlich fiel. Unmittelbar darauf löste Jelzin den KGB auf und verbot die KPdSU. Die letzte große Kundgebung gab es dann am Samstag zur Beerdigung der drei Putschopfer. Der Aufstand zu spät kommender Alt-Kommunisten wurde zur Revolution unter demokratischen Vorzeichen, eine Unionsrepublik nach der anderen erklärte sich noch im August für unabhängig, Ende 1991 folgte die Auflösung der Sowjetunion.

Heute wissen wir, dass auch die Demokraten in Russland letztlich in den 1990er Jahren ihr eigenes Momentum verpasst haben. Im Oktober 1993 war es Boris Jelzin, der die Panzer gegen das Parlament im Weißen Haus auffahren und es beschießen ließ. Wenngleich durch ein Referendum legitimiert, setzte Jelzin gegen den Widerstand der eigentlichen verfassunggebenden Organe eine neue Verfassung durch. Diese schwächte das Parlament und verschaffte dem Präsidenten weitreichende Vollmachten. Das Fehlen dieser demokratischen Checks and Balances bleibt ein russisches Problem bis heute.

Andreas Metz 1991 in Moskau © privat

Andreas Metz war als Student der Osteuropäischen Geschichte und Volkswirtschaft Anfang der 1990er Jahre in Russland, der Ukraine und im Baltikum unterwegs. Heute leitet er die Abteilung Public Affairs im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft.

Die Ereignisse vom August 1991 in Moskau hielt er auch mit der Kamera  fest.