Alhierd Bacharevič
Text: Alhierd BacharevičÜbersetzung: Tina WünschmannTitelbild: Alhierd Bacharevič im Jahr 1991, als er plötzlich einen neuen Kontinent entdeckte / Foto © privat25.08.2021

Alhierd Bacharevič ist auf dem Sprung zum Erwachsenwerden und entdeckt zum Ende der Sowjetunion plötzlich eine völlig neue Welt. Was das für ihn bedeutete, beschreibt der belarussische Schriftsteller in diesem Auszug aus seinem Buch „Mae dsewjanostyja“ (dt. Meine Neunziger).

… Irgendwann einmal, ganz am Ende des Jahres 1989, brachte mein Vater, der damals in Shodina arbeitete und jeden Tag mit der Bahn zur Arbeit fuhr, Zeitungen mit nach Hause, die er in der Elektritschka gekauft hatte. Darunter war auch eine Zeitung der BNF (Belarussische Volksfront) – wie sie hieß, weiß ich nicht mehr. Zu jener Zeit stürzte ich mich begierig auf jeglichen neuen Lesestoff, so auch auf diese Kampfschrift – und mir gefiel, was ich las. Ich wollte mehr – und ich ging auf die Jagd nach nationalistischer Literatur.

Und tatsächlich fand ich was – als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich endlich aufwache.

Bis dahin hatte ich gedacht, ich lebe im Mikrorajon Schabany, in der Stadt Minsk, in der UdSSR, im Land Tschechows, Dostojewskis, Peters des Großen, Lenins, Stalins, Gorbatschows … Alles ringsum war hell erleuchtet von der russischen Kultur, und was sich da im Schatten verbarg, war nicht von Interesse und Belang. Die BSSR war lediglich eine administrative Einheit. Niemand in meinem Umfeld sprach Belarussisch, und hätte es jemand getan, so wäre er als psychisch krank abgetan worden. Ab und an hörte man natürlich die belarussische Sprache: Vor allem assoziierten wir sie mit den Stimmen der Fußballkommentatoren. Von wem konnte man die belarussische Literatursprache noch hören? Von honorigen Opas mit Schirmmützen im Fernsehen … Diese wurden Intelligenzija genannt. Aus der Kiste laberten sie allen möglichen Quatsch, der keinen Bezug zu der uns umgebenden Realität hatte. Unsere Belarussischlehrerin sprach nach Unterrichtsende kein Belarussisch und schimpfte nicht auf die Nationalisten. Ja, und die richtigen Nationalisten erschienen dann erst später auf den Bildschirmen. Das war es dann wohl auch. Eine Sprache, die nur als Symbol für irgendetwas existiert, aber nicht wirklich lebt – so fühlte sich Belarussisch für uns an.

Und dann das!

Die Welt stand Kopf.

Ich fühlte mich wie Kolumbus.

Aufbruch in die Freiheit: Der Autor (links) Mitte der 1990er Jahre / Foto © privat

Es stellte sich heraus, dass ich in einem Land namens Belarus lebe, das dereinst vom großen östlichen Imperium seiner Freiheit beraubt worden war. Einem Land mit einer reichen und spannenden Geschichte – und diese Geschichte, unsere Geschichte, wollte das Imperium vor uns verbergen. Es stellte sich heraus, dass ich auf einem unergründeten, versunkenen Kontinent voller Schätze und Geheimnisse lebe – und dass die Hoffnung besteht, dass dieser wunderbare Kontinent wieder auftaucht, wieder Wirklichkeit wird und wir seine Wirte sein könnten. Wir auf unserem Boden, wir für unser Land. Das war ein Schock. Das war Erstentdeckerglück. Das war der Stolz des abtrünnigen Sklaven.

Es stellte sich heraus, dass diese lustige, armselige, den notorischen Vielschreibern der belarussischen Sowjetliteratur eigene Dorfsprache, die man uns lustlos, aber mit sadistischer Freude in der Schule lehrte – gerade so, als wolle man uns ein weiteres Mal ordentlich quälen – einer der Schätze ist, der allen Belarussen gehört. Also auch mir. Und das war ziemlich cool – eine eigene Sprache zu haben, nicht nur die, die alle sprechen. Auch das erfüllte mich mit Stolz und forderte Taten von mir.

Es stellte sich heraus, dass jemand den Mut besaß, laut auszusprechen, was wir alle langsam ohnehin zu begreifen begannen: Das System, in dem wir und unsere Eltern lebten, war verfault und scheinheilig, lehrte uns Betrug und Lüge. Der Westen war strahlend, gerecht und frei – Moskau war das Gefängnis der Völker und das Grab der Demokratie. Mir war das durchaus bewusst, aber die alte Tante Sowjetunion in mir flüsterte eindringlich, dass ich die Klappe halten solle, damit nichts Schlimmes geschieht. Ich hatte weniger Angst um mich, als um meine Eltern. Wie tief doch dieses widerliche Grauen vor dem Staat in uns saß … Es auszutreiben, kostete mich zehn Jahre hartnäckigen Kampf mit mir selbst – die ältere Generation hat es nie geschafft, sich von den sowjetischen Ängsten zu befreien. Das System Lukaschenka hat sie den Menschen zurückgebracht – die Ängste garantierten ihm den Sieg.

Ich glaube, das ist eine harte und schmerzvolle Aufgabe – die innere Tante Sowjetunion zu töten. Es erfordert tägliche Übung, Handlungen gegen sich selbst, einen vorbehaltlosen Freiheitskult – sonst funktioniert es nicht. Jeder mit Lukaschenkas Staat geschlossene Kompromiss gibt deiner inneren Sowjetunion wieder die Chance von vorn zu beginnen. Damals wusste ich noch nicht, dass Kompromisse unvermeidbar sind. Ich machte eine Entdeckung nach der anderen.

Die Unabhängigkeit schien gleichzeitig möglich und unmöglich

Es stellte sich heraus, dass das Imperium stirbt – noch ein bisschen, und wir würden frei sein. Wir mussten nur den Erwachsenen helfen, das Ende herbeizuführen. Voller Inspiration schrieb ich in mein Hausaufgabenheft: „Tod dem sowjetischen Imperium!“, „Es lebe Belarus!“ und ähnliches – ich schrieb es einfach auf den Umschlag, damit es die Lehrer auch sehen konnten. Und sie sahen es – und duckten sich weg. Dass ich straffrei ausging, machte mich nur selbstbewusster und unverschämter.

Es stellte sich heraus, dass eine schier unglaubliche Option bestand: Meine Jugend in einem unabhängigen europäischen Land zu verbringen, einem Land wie Schweden, Frankreich, Italien oder meinem geliebten Deutschland … Diese Perspektive ließ den Atem stocken. Heute, ja, da ist die belarussische Unabhängigkeit etwas Reales und Selbstverständliches. Aber damals war schon der Traum davon eine Großtat, die Vorstellung, dass eine solche Zukunft möglich sein könnte, war zum Verrücktwerden. Es schien gleichzeitig möglich und unmöglich.

Und ich hatte noch nicht genug. Letztlich ging es ja nur um eine neue, für sich genommen vielleicht schöne Ideologie – doch ich war damals aber schon dem furchtbaren, fröhlichen und unersättlichen Gott verfallen, der auf den Namen Kunst hört. Ohne den Glauben an die Kraft der Kunst schien alles schlicht und fad.

Mroja. Die erste belarussischsprachige Rockband. Sie beeinflusste mich viel stärker als BNF-Zeitungen, Flugblätter und patriotische Bücher. Zum ersten Mal hörte und sah ich sie vermutlich im Fernsehen – und Scheiß auf die fürchterliche Bild- und Tonqualität: Das war belarussischer Rock. Gespielt von stilvoll gekleideten, unverschämten, jungen, langhaarigen und supertalentierten Typen. Bald darauf fand ich Poster von ihnen und hängte sie über meinem Bett auf. Auf dem Tisch, an dem ich meine Hausaufgaben machte, lag plötzlich diese Platte: Dwazzaz wosmaja sorka (dt. Der achtundzwanzigste Stern) – das berühmte Mroja-Album, das bei Melodija erschienen war. Ich spielte Mroja auch meinem damals noch sehr kleinen Bruder vor: „Jahrhundertelang verehrten wir unsere Ahnen, aber jetzt nur Beschimpfung …“ – wehmütig sangen wir mit Volski und schauten hinaus in die Dunkelheit, während wir darauf warteten, dass die Eltern von der Arbeit heimkommen.

Leben zwischen Punk und Anarchismus in den 1990ern: Der Autor mit seiner Band Pravakacija / Foto © privat

Ich habe meine Neunziger erlebt, zerrissen zwischen Nationalismus und Anarchismus, zwischen dem Großfürstentum Litauen und Punk, zwischen Belletristik und Hard Rock, zwischen der Begeisterung für westliche Kultur und Demokratie und der Notwendigkeit, hier zu leben, wo es Freiheit und Kultur bald nicht mehr geben würde. Immer dazwischen. Zwischen der belarussischen Sprache und russischsprachigen Freunden. Zwischen dem Verlangen, von hier abzuhauen und dem Bedürfnis, hier und jetzt etwas zu tun. Zwischen „no future for you“ und „Belarus nach Europa!“

Sich für eines zu entscheiden war unmöglich. Damals wusste ich noch nicht, dass man sich für sich selbst entscheiden muss. Man muss immer sich selbst wählen. Und diejenigen, die man liebt.

Foto © Julia Cimafiejeva/Voland & Quist

Alhierd Bacharevič machte zu Beginn der 1990er Jahre den Schulabschluss in Minsk, er war damals ein junger Dichter und Punk-Musiker. Heute ist er Schriftsteller und lebt derzeit in Graz (Österreich). Einzelne seiner Werke sind auf Deutsch im Berliner Verlag edition.FotoTAPETA veröffentlicht, 2024 erscheint sein Roman Die Hunde Europas bei Voland & Quist.