Friederike Meltendorf: Der Jugendkeller einer West-Berliner Kirchengemeinde als Keimzelle neuer Völkerfreundschaft – Fahrt in die Sowjetunion Ende der 1980er
Ausgerechnet das gelbe Tagebuch ist weg. Mir fehlen Daten, Fakten … war es August 1989? Die Sowjetunion jedenfalls existierte noch. Wir fuhren mit einem Intourist-Bus über die südliche Berliner Stadtautobahn, die irgendwann endete. Unter einer grauen Brückenunterführung hindurch ging es über die Grenze zum Flughafen Schönefeld. Eine graue Schleuse.
Warum fuhren wir dorthin, in die Sowjetunion? Eine Reisegruppe junger Menschen, die von einem der Betreuer immer mit den Worten vorgestellt wurde: … „Wir sind aus drei Kirchengemeinden im Süden Berlins”, wobei er „Süden” immer extrem betonte. Mich nervte diese alberne Betonung. Erst jetzt beim Schreiben schwant mir, warum er das tat.
Alles, was westlich von Berlin lag, langweilte mich zu Tode
Wir waren auf der Suche. Zumindest hatten die meisten gerade Abitur gemacht oder waren dabei. Ich war ganz gewiss auf der Suche. Nach einer Alternative. Alles was westlich von Westberlin lag, langweilte mich zu Tode: die damals schon beginnende Übersättigung, die pekunäre Schönheit, die in meiner Wahrnehmung ein Sich-über-andere-Erheben bedeutet und oft ziemlich phantasielos ist. Das selbstverständliche Leben von Privilegien, für die man eigentlich nichts getan hat.
Der Flug ging nach Leningrad. Wir besuchten Soldatengräber, das Blockademuseum, trafen einen Stalin-Übersetzer (einen Stalin-Übersetzer! mir entging die historische Tragweite) und waren bei vielen recht grotesken Treffen mit Komsomolzen. Orte der Erinnerung und der sowjetischen Gegenwart, einer nach dem anderen. Unsere Gruppe aus drei Gemeinden im Süden Berlins … Doch mir ist vor allem eines in Erinnerung: Nachts war Leningrad dunkel. Eine unbeleuchtete Metropole. So etwas gibt es heute nicht mehr. Und es hilft meiner Erinnerung dahingehend, dass es schon Ende August gewesen sein muss. Sonst wird Leningrad im Sommer nicht dunkel.
In Wolgograd verbrachten wir einen Komsomol-Nachmittag in einer Familie. Die Mutter hatte eine rechteckige Buttercremetorte mit dem Wort WILLKOMM! dekoriert. Ich empfand die Torte als eine hochkalorische Einladung zur Versöhnung und bin ihr gefolgt.
Meine Sommer wurden russisch. Ich fuhr die 1990er Jahre hindurch jedes Jahr dorthin. In einem dieser Sommer begannen die Freundschaften, die mir alljährliche emotionale Duschen gewährten, wie ich sie irgendwann nannte. Da ist nichts Übertriebenes, da ist nichts anstrengend Psychologisierendes, was für mich Freundschaften in Deutschland zu der Zeit manchmal hatten – das ist etwas, das einfach warm und da und spaßig ist.
In einem dieser Sommer begannen die Freundschaften, die mir alljährliche emotionale Duschen gewährten
Und mit den Freundschaften wurde die dunkle Schöne, als die ich Leningrad kennengelernt habe, zu Piter und zum Eldorado eines ungeahnten Hippielebens. Zu ihm gehörte auch der graue Lippenstift der Marke Kiki Nr. 55. Und die Schönheit verfallenden Stucks und die Kunst. Und dass nicht alles funktionierte. Dass vieles nicht funktionierte, viel länger dauerte oder fast zusammenbrach. Und dass man damit lebte.
Vielleicht konnte ich in Russland Freiheit kennenlernen? Konnte die Freiheit aus sicherer Perspektive von der Seite beobachten, weil ich selbst Angst davor hatte? Zusammen mit den Russen, die zu dem Zeitpunkt keine andere Chance hatten und dazu gezwungen wurden? Die plötzlich Socken verkauften, obwohl sie eigentlich studierte Leute waren. Die sich für nichts zu fein sein durften, sondern einfach machten. Das hat mich fasziniert. Obwohl ich jetzt weiß, dass ich nur die Oberfläche sah, die unteren Schichten sah ich als gut ausgestattetes Cowgirl aus dem Westen nicht, sondern kann sie heute bei Swetlana Alexijewitsch nachlesen.
Die unteren Schichten sah ich als gut ausgestattetes Cowgirl aus dem Westen nicht, sondern kann sie heute bei Swetlana Alexijewitsch nachlesen
Zur Freiheit und zu meinem hedonistischen Herzchen gehörte nämlich auch, dass ich mir bis Mitte der 1990er in Russland ziemlich viel leisten konnte. Ich wohnte am Newski Prospekt und am Taurischen Garten und in Moskau am Park Kultury … Doch irgendwann wendete sich das Blatt:
Meine Entscheidung, schließlich als Übersetzerin Russisch und Englisch zu studieren, hatte Folgen. Ich verdiente nach Studienende schlecht. Mein bester Petersburger Freund verdiente als Game-Designer gut. Ich weiß noch, wie wir zu ihm gingen, in seine erste Einzimmereigentumswohnung am Obwodny Kanal, wo ein Siemens-Wasserkocher im Porsche-Design in der Küche stand, als ich gerade mein erstes Gehalt bekommen hatte, von dem ich mir das Flugticket gekauft hatte.
Unterdessen hat er eine Dreizimmerwohnung an der Gorkowskaja. Etwas Ähnliches zu erwerben, werde ich nicht schaffen, aber vielleicht gewährt mir Piter ja lebenslanges Wohnrecht? Für das Herstellen und Ermöglichen von Kommunikation im Miteinander? Ich hoffe, durch die derzeit Pandemie-erzwungene Abwesenheit, dieses Bleiberecht nicht zu verwirken, in das ich mein Wertvollstes investiert habe, nämlich mein Herzblut.
Aber ganz ehrlich – mit den Jahren ermüdet mich die gewählte Freiheit zuweilen, der Abschied von vielem bequem Stabilen, das mein Aufwachsen in guten Kreisen der Bundesrepublik für mich bereitgehalten hat. Vielleicht rührt daher auch ein Verständnis dafür, dass Freiheit überfordern kann. Nur: Möge die Folge nicht sein, dass man die ganze Freiheit wieder über Bord wirft. Dann wäre es vergebene Liebesmüh gewesen. Und es bliebe immer ein nicht nur schaler, sondern bitterer Nachgeschmack im neuen besser ausgestatteten Kerker.
Friederike Meltendorf hat nach ein paar Jahren Medizinstudium in Berlin an der Humboldt-Universität Übersetzen studiert und danach zunächst Bücher aus dem Russischen und Englischen übersetzt, oft zeitgenössische Literatur von Autor*innen mit migrantischen Biographien. Seit der Gründung 2015 ist sie Übersetzungsredakteurin bei dekoder.