Susanne Maslanka
Text: Susanne MaslankaTitelbild: Foto © privat21.10.2021

Susanne Maslanka über den Aufbruch in den Kultur- und Austauschbeziehungen während der Gorbatschow-Ära.

Im Juli 1987 besuchte Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Sowjetunion. Ein üblicher Vorgang internationaler Diplomatie, möchte man meinen, doch unter damaligen Vorzeichen kam dies einer kleinen Sensation gleich. Denn die westdeutsch-sowjetischen Beziehungen waren in den frühen 1980er Jahren nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 und dem NATO-Doppelbeschluss an einem Tiefpunkt angelangt. Auch der Machtantritt Michail Gorbatschows 1985 führte nicht gleich zur „Gorbimanie“: Politik, Medien und Gesellschaft glaubten in großen Teilen zunächst nicht daran, dass der neue Generalsekretär seine Reformankündigungen wahr machen könne.1 1987 leitete Gorbatschow allerdings mit den Schlagworten Perestroika und Glasnost die ersten Schritte ein, um seine Versprechen zu erfüllen und die Aufbruchsstimmung schwappte auch nach Westdeutschland über.

So war der Staatsbesuch von großem Interesse der bundesdeutschen Bevölkerung begleitet, was hunderte Bürgerbriefe zeigen, die zu diesem Anlass beim Bundespräsidialamt eingingen. Besonders begeistert zeigten sich die BriefschreiberInnen von einer Diskussion Weizsäckers mit sowjetischen Jugendlichen, die im Fernsehen ausgestrahlt wurde.2 Ein 19-jähriger Abiturient war derart hingerissen von einer der Diskussionsteilnehmerinnen, dass er Weizsäcker bat, für ihn Kontakt zu ihr aufzunehmen: „Von Ihrem bedachten und geistvollen Gespräch mit sowjetischen Jugendlichen fasziniert (…), insbesondere deshalb, weil ich über keinerlei Kontakte und/oder Erfahrungen durch direkte touristische Eindrücke in Ländern jenseits der Mauer verfügte, überfiel mich das Ansinnen, Sie in niedrigste Kuppeldienste zu spannen, um so glücklich der Völkerverständigung frönen zu können.“3

Deutsch-deutsch-sowjetische Kontaktmöglichkeiten

Wenn auch in diesem Brief der Eigennutz im Vordergrund steht, zeigen Inhalt und Zahl der Zuschriften die große Neugier auf Land und Leute. Die meisten Westdeutschen kannten die Sowjetunion nur aus der vom Kalten Krieg geprägten Medienberichterstattung sowie den Erzählungen der Kriegsgeneration. Die Bevölkerung der DDR hatte im Gegensatz dazu vergleichsweise mehr Möglichkeiten, SowjetbürgerInnen kennenzulernen – wenn auch deutlich weniger als die propagierte Völkerfreundschaft suggerierte: Die sowjetischen Truppen lebten relativ abgeschieden, immerhin waren sie jedoch durch ihre Präsenz Teil des alltäglichen Lebens.4 Zudem traf sich die sowjetische und die DDR-Bevölkerung im Rahmen von Wirtschaftskooperationen und Jugendaustausch. Die Sowjetunion bot für viele junge Menschen aus der DDR fast die einzige Möglichkeit, Auslandserfahrung zu sammeln. Einige Jugendliche und ArbeiterInnen kamen auch in den Genuss, mit „Freundschaftszügen“ den großen Bruderstaat zu bereisen.5 Außerdem zog es pro Jahr hunderte von ihnen zum Auslandsstudium nach Moskau, Kiew, Leningrad, Kaluga und andere sowjetische Städte, bis 1990 schlossen etwa 12.000 Studierende aus der DDR ein Studium in der Sowjetunion ab. AbsolventInnen sowjetischer Hochschulen hatten gute Karriereaussichten, auch die SED zeigte besonderes Interesse und warb bei ihnen um eine Parteimitgliedschaft.6

Für Westdeutsche gestalteten sich Kontakte zu SowjetbürgerInnen deutlich schwieriger. Zwar konnte man touristisch in die Sowjetunion reisen, meist war dies aber nur in Form organisierter Gruppenreisen möglich.7 Diese waren strengen Regeln unterworfen: Reiseanbieter mussten mit der staatlichen Tourismusagentur Intourist kooperieren und die Reisen wurden von offizieller Seite begleitet – dies diente letztendlich der Überwachung. Besuche von SowjetbürgerInnen in der Bundesrepublik fanden fast ausschließlich im Rahmen von offiziell organisierten Reisen, Wissenschaftskooperationen und offiziellen Kulturveranstaltungen statt. Dank der Entspannung im Ost-West-Konflikt stiegen die Möglichkeiten dazu Ende der 1980er Jahre stark an, da in Wissenschaft und Politik blockübergreifend Gorbatschows Visionen von einer „Neuen Weltordnung“ und des „gemeinsamen europäischen Hauses“ in unterschiedlichen Formaten hoffnungsvoll diskutiert wurden. Die neuen Impulse aus der Sowjetunion führten schnell zu Verbesserungen der bilateralen Beziehungen auf vielen Ebenen, unter anderem im Kulturaustausch.8

Durchbruch für den westdeutsch-sowjetischen Austausch

So machte 1988 die Vereinbarung eines Zweijahresprogramms zur kulturellen Zusammenarbeit den Weg frei für einen nie zuvor dagewesenen Austausch: Dass das Programm nach gescheiterten Anläufen und 15 Jahren Pause überhaupt zustande kam, zeigte deutlich den frischen Wind, der in den bilateralen Beziehungen wehte. Neben Verabredungen über Ausstellungen, Musik- und Theatergastspiele bot die neue Vereinbarung auch der Wissenschaft den Rahmen für eine intensivierte Zusammenarbeit.9 Besonders im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich waren auf Wunsch Moskaus zwar schon zuvor gute Kooperationen zustande gekommen, aber gerade GeisteswissenschaftlerInnen waren bei ihren Forschungen in der Sowjetunion mit enormen Problemen konfrontiert. Die westdeutsche Seite konnte nun aushandeln, dass eine Mindestzahl an Stipendien an diese Gruppe vergeben werden sollte. Dies war eine bemerkenswerte Entwicklung und angesichts der sich langsam öffnenden sowjetischen Archive ein Glücksfall für die jüngere Generation der bundesdeutschen HistorikerInnen. Verbesserungen im Bereich des Schul- und Jugendaustauschs, in der Sprachausbildung und in der Zusammenarbeit in der Aus- und Weiterbildung ergänzten das Programm. Zudem zeigte sich die sowjetische Seite offen, über die Errichtung eines bundesdeutschen Kulturinstituts in der Sowjetunion zu sprechen. Ein Durchbruch – war doch die bisherige Linie der Sowjetunion, keine westlichen Kulturinstitutionen zuzulassen; selbst Institute befreundeter sozialistischer Staaten waren lange Zeit nicht erwünscht gewesen.10 Das Goethe-Institut konnte letztendlich im unabhängigen Russland im Oktober 1992 seine Tore öffnen.

Humanitäre Hilfe

Die Öffnung im Kultur- und Wissenschaftsbereich ab 1988 bot nur einer kleinen Gruppe in Bundesrepublik und Sowjetunion Gelegenheit zum Austausch. Die Sowjetunion-Euphorie und besonders die „Gorbimanie“ war aber auch in der breiten Bevölkerung spürbar, was besonders bei dem Besuch Gorbatschows in der Bundesrepublik 1989 deutlich wurde: Überall, wo sich der Generalsekretär zeigte, schallten ihm begeisterte „Gorbi, Gorbi!“-Rufe entgegen. Die neue Verbundenheit, die BundesbürgerInnen zur Sowjetunion empfanden, zeigte sich unter anderem an der staatlichen und privaten Bereitschaft zur Nothilfe. Denn die Sowjetunion erlebte in ihrer Spätphase mehrere Katastrophen – angefangen beim Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 über das Erdbeben in Armenien 1988 bis zur Lebensmittelknappheit aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation ab 1990. Die Bundesregierung leistete in allen Fällen praktische und finanzielle Hilfe, sie beteiligte sich beispielsweise am Aufbau eines orthopädischen Zentrums für die Erdbebenopfer in Armenien. Auch die Bereitschaft zu privaten Spendenaktionen während der Versorgungskrise war so groß, dass das Auswärtige Amt den Arbeitsstab „Sowjetunion-Hilfe“ einrichtete.11 In Bezug auf die Tschernobyl-Katastrophe gründeten sich Vereine, die Kindern aus den verseuchten Gebieten Erholungsurlaube ermöglichen wollten. Diese ersten transnationalen bürgerschaftlichen Kontakte boten eine Grundlage für die Vernetzung der Zivilgesellschaften.

Neue Chancen nach dem doppelten Systemumbruch

Das Jahr 1990 war entscheidend für das zwischenstaatliche Verhältnis, da das sowjetische „Ja“ zur Wiedervereinigung wie ein Katalysator wirkte. Die euphorische Aufbruchstimmung ließ viele Menschen in Ost und West an die Überwindung der Spaltung Europas glauben. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands waren die Veränderungen auf der Landkarte Europas jedoch noch nicht abgeschlossen, da mit dem Zerfall der Sowjetunion 15 neue Staaten entstanden. Deutschland konnte mit vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion Kulturabkommen schließen, eines der ersten mit Russland im Dezember 1992. Die Grundlage für die weiteren Austauschbeziehungen waren damit gelegt, die Erwartungen an die zukünftige Zusammenarbeit auf beiden Seiten hoch. Die deutsche auswärtige Kulturpolitik legte in den 1990er Jahren einen klaren Schwerpunkt auf die mittel- und osteuropäischen Staaten und es wurde eine Vielzahl von Kulturmittler- und Nichtregierungsorganisationen in Russland aktiv.

Leider erfüllten sich die positiven Erwartungen aus der Zeit des Systemumbruchs nur teilweise. Zwar konnten sich seit 1990 im Bereich des Wissenschafts-, Jugend-, Schul- und Kulturaustausches stabile Beziehungen etablieren. Es gibt inzwischen über 75 deutsch-russische Städtepartnerschaften, 12 von ihnen feiern 2021 bereits ihr 30-jähriges Jubiläum. Auch die Wissenschaftskooperation ist auf einem hohen Niveau: 2020 unterhielten 216 russische Hochschulen Kooperationen mit deutschen Hochschulen – nur mit den USA, Frankreich und China schlossen deutsche Hochschulen mehr Vereinbarungen zur Zusammenarbeit. Zudem erfreut sich bei russischen jungen Erwachsenen ein Studium in Deutschland nach wie vor großer Beliebtheit: Etwa 14.000 Personen aus Russland studierten 2019 an deutschen Hochschulen, auch wenn die Zahlen nach langem stetigen Anwachsen von 2014 bis 2017 stagnierten und seitdem leicht zurückgehen.12

Aber trotz der Institutionalisierung der Kultur- und Austauschbeziehungen ist heute, 30 Jahre später, von der Euphorie der „Wendezeit“ aufgrund der massiven politischen Konflikte – von der Krimannexion bis hin zur Vergiftung Nawalnys – nicht mehr viel zu spüren. Davon sind die Austauschbeziehungen, besonders auf zivilgesellschaftlicher Ebene, gravierend betroffen: So erklärte die russische Regierung im Mai 2021 unter anderem die deutsche Nichtregierungsorganisation Deutsch-Russischer Austausch, die seit 1992 in Russland aktiv gewesen war, zur unerwünschten Organisation. Dennoch wollen viele Aktive den Kontakt nach Russland nicht abreißen lassen, auch über die offiziellen Kanäle. So betonte die Hamburger Parlamentspräsidentin Carola Veit anlässlich einer Konferenz der deutsch-russischen Städtepartnerschaften im Juni 2021, dass die politischen Konflikte auf die Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und Sankt Petersburg selbst keinen Einfluss habe. Sie berichtete zudem vom beiderseitigen großes Interesse an einer weiterhin engen Partnerschaft.13 Inwieweit sich dieses und ähnliche Vorhaben in dem schwierigen politischen Klima weiterhin verwirklichen lassen werden die kommenden Jahre zeigen.


Zum Weiterlesen:

Biermann, Rafael: Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Paderborn 1998.

Großmann, Sonja (2019): Falsche Freunde im Kalten Krieg? Sowjetische Freundschaftsgesellschaften in Westeuropa als Instrumente und Akteure der Cultural Diplomacy, Berlin/Boston

Korowin, Elena (2013): Der Russen-Boom, Köln

Lippert, Barbara (1996): Auswärtige Kulturpolitik im Zeichen der Ostpolitik: Verhandlungen mit Moskau 1969 – 1990, Münster


Fußnoten

vgl. Wentker, Hermann (2020): Die Deutschen und Gorbatschow: Der Gorbatschow-Diskurs im doppelten Deutschland 1985-1991, Berlin, S. 55

Korrespondenz Staatsbesuch Sowjetunion, Zusammenfassung vom 17.07.1987; in: Bundesarchiv Koblenz, B 102/47558, Bl. 41

Brief eines 19-Jährigen Bundesbürgers an Richard von Weizsäcker vom 10.07.1987, in: Bundesarchiv B 122/47571, o. P.

Am 1. Januar 1991 waren knapp 340.000 Angehörige der sowjetischen Truppen auf dem Gebiet der DDR stationiert, dazu kamen noch knapp 205.000 Zivilangestelle und Familienangehörige. Vgl.: Satjukow, Silke (2008): Besatzer: »Die Russen« in Deutschland 1945–1994, Göttingen, S. 88

vgl. Irmscher, Gerlinde (1996): Alltägliche Fremde: Auslandsreisen in der DDR, in: Spode, Hasso (Hrsg.): Goldstrand und Teutonengrill: Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945 bis 1989, Berlin, S. 51-68; hier: S. 56

vgl. Schubert-Lehnhardt, Viola/Wagner, Alexandra (2021): «In der Sowjetunion lernen – und was dabei lernen?»: Lebenswege von DDR-AbsolventInnen sowjetischer ziviler Hochschulen, Hrsg. v. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

vgl. Großmann, Sonja (2019): Falsche Freunde im Kalten Krieg? Sowjetische Freundschaftsgesellschaften in Westeuropa als Instrumente und Akteure der Cultural Diplomacy, Berlin/Boston, S.398

Schon vor der Aufbruchstimmung Ende der 1980er Jahre konnten zwar einige wechselseitige Projekte verwirklicht werden. Ab 1978 bot beispielsweise die jährlich in zwei Städten der Sowjetunion organisierte Ausstellung Ein Blick in die Bundesrepublik Deutschland SowjetbürgerIinnen die Möglichkeit, sich über Kunst, Kultur und Alltag zu informieren, als Gegenstück dazu wurden in westdeutschen Städten sowjetische Kulturtage durchgeführt. In der Kunstwelt kam es in den 1980er Jahren zu einem „Russen-Boom“: Ausstellungen und Auktionen sowjetischer Kunst fanden ein großes Publikum und zahlungskräftige Kundschaft.

Vorlage vom 15.07.1988; Betreff: Stand und Aussichten der deutsch-sowjetischen Kulturbeziehungen im Hinblick auf den Besuch des Herrn Bundesministers in Moskau, S. 3; in: PA AA B41-ZA/ 143 613, o. P.

Vorlage 15.07.1988; Betreff: Stand und Aussichten der deutsch-sowjetischen Kulturbeziehungen im Hinblick auf den Besuch des Herrn Bundesministers in Moskau, S. 1; in: PA AA B41-ZA/ 143 613, o. P.

Sachstand Bilaterale Sowjetunionhilfe, 18.12.1990; in: PA AA B 211-ZA/ 160555, o. P.