Leonid Klimov: Von ersten Souvenirs und Geschenken aus Deutschland zum Studieren, Arbeiten und Leben dort
Mein Sohn ließ sich nicht begeistern, als ich ihm von der grünen Jacke erzählte, die ich ungefähr in seinem Alter bekommen habe, also mit knapp sechs Jahren. Er, als stolzer Besitzer einer Handwerkerhose, die mindestens 14 Taschen zu verzeichnen beansprucht, konnte nicht wirklich verstehen, was an einer einfachen Jacke mit schlicht sechs Taschen so besonders sein soll. Für mich aber war sie damals mehr als eine Jacke, sie war ein Symbol der Zugehörigkeit zu einer anderen Welt, die aus einer provinziellen mittelrussischen Stadt heraus nicht wirklich greifbar, ja, nicht einmal vorstellbar war.
Die Jacke brachte meine Mutter mit aus Berlin, wo sie zusammen mit einer Gruppe anderer Lehrer gewesen war. Das war im Frühjahr 1992, ihre erste Auslandsreise. Ein paar Monate zuvor hatte sich die Sowjetunion aufgelöst. Ein paar Monate darauf gründete meine Mutter eine der ersten Waldorfschulen in Russland mit, in die auch ich eingeschult wurde.
So etwas wie diese Jacke hatte ich bis dahin noch nie gesehen: grün, und mit sechs (SECHS!) Taschen.
Auch die anderen Mitbringsel waren bewundernswert, etwa zwei Plüschbären in brutal grellen Farben oder eine Packung Kaffee, hermetisch verschlossen, hart wie ein Ziegelstein, der ganz schlaff wurde, als wir die Folie mit dem Messer durchbohrt hatten. Das Fenster in diese andere Welt war neben wenigen Fotos, die meine Mutter gemacht hatte, ein dünnes Buch mit Softcover, Nowy Berlin – Das neue Berlin, das auf mich wirkte wie Illustrationen zu einem Sci-fi-Roman. Neben den üblichen Sehenswürdigkeiten gab es da auch ein Foto von einigen (ziemlich gepflegten) Punks mit bunt gefärbten Irokesenhaarschnitten und natürlich die Mauer.
Ich war sechs Jahre alt und die „Außenwelt“ hatte mich bis dahin nicht wirklich beschäftigt. Sie hatte auch nicht wirklich existiert. Und plötzlich kam sie zu uns ins Haus, in Form von Sachen und Bildern. Und irgendwie ist sie geblieben. Meine Mutter sagte mir später, die Gründung einer Waldorfschule in der russischen Provinz sei eher Zufall gewesen. Einigen LehrerInnen sei zwar bewusst gewesen, dass die sowjetische Schule alles andere als optimal war und man eine „andere“ Schule brauche. Welche aber, das war unklar und durch Zufall kam es dazu, dass eine Waldorfklasse im Jahr des Zerfalls der UdSSR die Stadt besuchte und es zu einem immer intensiver werdenden Austausch kam. Der Austausch war jedoch nur dank der Öffnung des Landes möglich geworden. Auch wenn sowohl die Öffnung als auch der Austausch selbst rein zufällig waren.
Die „Außenwelt“ hatte mich bis dahin nicht wirklich beschäftigt. Sie hatte auch nicht wirklich existiert. Und plötzlich kam sie zu uns ins Haus, in Form von Sachen und Bildern
Ab 1992 wuchs ich in zwei verschiedenen Welten auf. Einerseits war ich ein „postsowjetischer Junge“, der die 1990er Jahre in allen (na gut, in vielen) Facetten miterlebte. Wie viele andere Kinder habe ich bedauert, dass man immer zu den Nachbarn zwei Treppenhäuser weiter laufen musste, wenn man im Hof kicken wollte, um den Fussball auszuleihen (und was sollen wir machen, wenn sie nicht zuhause sind?). Wie viele andere musste ich die Snickers-Packung erstmal lange anschauen und von allen Seiten betrachten, ehe ich mich endlich traute, sie aufzumachen (es war dunkel und eng unter der zusammengestellten Reihe von Klappstühlen in einer Art „Festsaal“ meiner Schule).
Wie viele andere war ich aber auch so frei gewesen, wie ich es mir für meine eigenen Kinder heute nicht vorstellen kann: Wir spielten auf den seit dem Zerfall des Landes sich selbst überlassenen Baustellen und in halb zerstörten Kirchen, wo man über ein marodes Baugerüst über den Glockenturm bis zum Kreuz klettern konnte. Wir spielten in einem Kampfjet (MiG-21), der im Park um die Ecke stand und Tag für Tag mehr Teile verlor (wir dachten übrigens, es sei das Flugzeug von Gagarin).
Gleichzeitig lebte ich in einer ganz anderen Welt, die ich nun nicht als genuin europäisch oder deutsch, aber auch alles andere als sowjetisch oder russisch bezeichnen kann – die russische Waldorfschule, in der viele deutsche Traditionen und Riten übernommen und adaptiert wurden – von Laternenlauf und Advent (das gibt es in Russland sonst nicht) bis hin zu den ins Russische übersetzen Liedern, die die deutschen Schüler singen.
Ich lebte in einer ganz anderen Welt, die ich nicht als genuin europäisch oder deutsch, aber auch alles andere als sowjetisch oder russisch bezeichnen kann
Jedes Jahr hatten wir Besuche von deutschen LehrerInnen und SchülerInnen in der Schule, aber auch bei uns zu Hause. Im Jahr 1998 durfte ich selbst als Austauschschüler nach Berlin fahren. Und das war wiederum weniger eine Reise „nach Westen“, als vielmehr eine Reise in eine andere Welt, fast in ein Jenseits. Da wo ich in Berlin wohnte, gab es einen Brunnen mit gelbem Wasser. Auf den Spielplätzen (was?! Spielplätze?!) gab es eine Tischtennis-Platte und eine Seilbahn (so etwas hatten wir noch nie gesehen und die russischen Schüler haben das Ding wegen seiner Form als wantus – Pümpel – bezeichnet), die zweiköpfige Familie wohnte in einer Fünfzimmerwohnung (wir dagegen zu sechst in drei winzigen Zimmern), es gab Eis in Kugeln (hundert Millionen Sorten statt drei), Hasen hüpften im Park herum, in der Schule gab es einen Konzertsaal, die Busse hatten zwei Stockwerke, man konnte auf den Seen segeln …
Es gab Eis in Kugeln (hundert Millionen Sorten statt drei), Hasen hüpften im Park herum, in der Schule gab es einen Konzertsaal, die Busse hatten zwei Stockwerke
Ich fühlte mich in diesen zwei Wochen absolut glücklich. Die Gastfamilie war überfreundlich und hat mich mit allerlei Klamotten und Büchern beschenkt. Mit der deutschen Sprache kam ich irgendwie auch klar: etwas unpraktisch, dass wir bis dahin nur Präsens und Futurum II gelernt haben, aber mit „habe“ und „machen“ oder „sein“ und „gehen“ konnte ich einigermaßen auch über meine Vergangenheit berichten. Herbstlicher Regen begleitete mich im Taxi zum Bahnhof, ich stieg in den Zug, der mich zurück nach Russland bringen sollte. Alles wie im Traum und die ersten Tränen kamen erst, als ich wieder in meiner Heimatstadt war. Blöderweise kommt der Herbst in Russland ein bisschen früher und als es in Berlin noch so grün war, begrüßten mich zu Hause schon die nackten Bäume, fünfstöckige Plattenbauten, ewige Baustellen, halb zerstörte Kirchen und die Reste vom Kampfjet. Kein Tischtennis im Park und kein Segeln mehr.
Und irgendwann kam ich wieder nach Deutschland, nun als junger Wissenschaftler, und blieb hier
Weiter gab es Bücher, Freunde, eine eigene Musikband, Archäologie, Liebeleien, wieder Bücher, Universität, Umzug nach Sankt Petersburg, feuchtfröhliche Nächte von Freitag auf Sonntag in den Bars Datscha oder Zynik in einer internationalen tusowka, dann wieder Bücher, Promotion. Und irgendwann kam ich wieder nach Deutschland, nun als junger Wissenschaftler, und blieb hier. Ich wohnte hauptsächlich in Kiel und Hamburg, verbrachte einige Monate in München, Paris und Südfrankreich. Ich fuhr kreuz und quer durch Deutschland und seine Nachbarländer, erst mit meiner Frau, dann mit einem und dann mit zwei Kindern. Und als das ältere Kind eingeschult wurde, ergab es sich durch Zufall, dass es in genau die Berliner Schule kam, die meine Mutter damals im Frühjahr 1992 besucht hatte und in der ich 1998 gewesen bin. Somit wurde es eine runde Geschichte, so rund wie sie nur sein kann.
Rückblickend fange ich jetzt auch an, in der unendlich langen Reihe der Zufälle ein (nicht lineares) Muster zu erkennen, das dazu noch in die Geschichte Europas und meines Landes eingebettet ist
Unser Leben sei die Rückseite eines Teppichs, schrieb Vladimir Nabokov. Das Muster könne man nicht sehen, nur die Knoten. Aber das Muster gäbe es und es sei prachtvoll. Rückblickend fange ich jetzt auch an, in der unendlich langen Reihe der Zufälle ein (nicht lineares) Muster zu erkennen, das dazu noch in die Geschichte Europas und meines Landes eingebettet ist. Alles fügt sich langsam zu Medaillons, lanzettförmigen Blättern und andersartigen floralen Motiven, deren Betrachtung viel Spaß bereitet. Zum Schlüsselmotiv (oder Schlüsselknoten zumindest) wird in meinem Teppich jedoch nicht der Fall der Berliner Mauer und auch nicht die Auflösung der Sowjetunion. Auch wenn da ein gewisser Kausalzusammenhang besteht, bleibt der Schlüsselknoten für mich meine grüne Jacke mit den sechs Taschen. Sieben sogar, wenn man eine ganz-ganz kleine an der Innenseite mitzählt.
Leonid A. Klimov hat Kultur- und Literaturwissenschaft ins Sankt Petersburg studiert. Nach der Promotion und einem zusätzlichen Masterstudium im Kultur- und Medienmanagement in Hamburg schloß er sich dem dekoder-Gründer Martin Krohs an und hat die dekoder-Geburt miterlebt und mitgestaltet. Seitdem ist er dekoder-Wissenschaftsredakteur und koordiniert die Arbeit von dekoder-lab.